Deportation und Genozid (1941-1945)

  Deportation und Genozid (1941-1945)

Im weiteren Verlauf des Krieges zeichneten sich bereitsTendenzen zur sog. „Endlösung“ ab, die mit der endgültigen Entscheidung zur physischen Vernichtung im Oktober 1941 mit Deportationen aus dem Altreich ihren Anfang nahm.

Die am 20. Januar 1942 in Berlin-Wannsee abgehaltene Geheimbesprechung führender Nationalsozialisten, zu der Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD), Spitzenvertreter von SS-Dienststellen und von allen betroffenen Staatsbehörden eingeladen hatte, ging als sog. Wannseekonferenz in die Geschichte ein.

Thema war die Koordination des Massenmordes an den Juden, bezeichnet als „Endlösung der europäischen Judenfrage“. Protokoll führte SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann. Auf Veranlassung Adolf Hitlers hatte Hermann Göring am 31. Juli 1941 Heydrich mit der Ausarbeitung eines „Gesamtentwurfs“ beauftragt. Etwa 370 000 Juden waren zuvor schon in Erschießungsaktionen der Heydrich unterstehenden Einsatzgruppen in besetzten polnischen und russischen Gebieten umgebracht worden.

Heydrichs Plan bezweckte die Rationalisierung der Judenverfolgung und ihre systematische Ausdehnung auf alle unter deutschem Zugriff stehenden Gebiete, die es von „rund elf Millionen Juden“ zu „säubern“ galt. Sie sollten in Ghettos und Konzentrationslager nach Polen deportiert und dort durch „natürliche Verminderung“ infolge von Zwangsarbeit vernichtet werden. „Der allfällig verbleibende Restbestand wird (…) entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist.“

Mit der Wannseekonferenz begann eine Mordmaschinerie anzulaufen, an der zahlreiche Institutionen, Ämter, Industriebetriebe sowie Teile der SS, der Polizei und des Militärs beteiligt waren und die insgesamt Hunderttausende von Menschen beschäftigte. Etwa sechs Millionen Menschen fielen der historisch einzigartigen, rassenideologisch motivierten Vernichtungsaktion, dem größten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte, zum Opfer.

In diese Mordmaschinerie gerieten nun auch die Fürstenauer Juden.

Im Spätherbst 1941 begannen in Westfalen die Vorbereitung zur Deportation.

Am 20.11.1941 versammelten sich unter Leitung des stellvertretenden Gauleiters Stangier hohe Beamte des Oberpräsidiums, des Oberfinanzpräsidiums, der Polizei und einige Parteifunktionäre zu einer Besprechung, auf der die organisatorischen Fragen hinsichtlich der Deportation geklärt werden sollten.

Den größten Teil der Besprechung nahm die Inbesitznahme und die Verteilung des jüdischen Vermögens, insbesondere der Wohnungen und des Mobiliars ein.

Nach Weisung der Staatspolizeistelle Münster hatte nunmehr die Stapoaußenstelle Bielefeld für den organisatorischen Ablauf der Deportation zu sorgen.

Die betroffenen Juden wurden über die bevorstehende Deportation unterrichtet, die sich hinter Begriffen wie „Umsiedlung“, „Abwanderung nach dem Osten“ oder „Evakuierung“ verbarg.

Bei den ersten Verschleppungen glaubten noch viele an die Überführung in ein Arbeitslager, weil man neben den zugestandenen 50 kg Gepäck sowie Lebensmittel für drei Wochen auch Handwerkszeug und sogar Nähmaschinen mitnehmen durfte. Noch am Morgen des Transports waren mit der sprichwörtlichen deutschen Gründlichkeit noch zahlreiche Formulare auszufüllen und Unterschriften zu leisten. Die Beamten der Ortspolizei hafteten persönlich für die Sicherstellung von Wertgegenständen, für den Einzug von Bargeld, den Versand des Reisegepäcks, das Abstellen von Licht in den Wohnungen und für das Versiegeln der Wohnungen.

Diese erste Massendeportation am 10. Dezember 1941 nach Riga erfasste auch einen Großteil der Juden aus Fürstenau.

In dem obenstehenden Schreiben des Oberpräsi-denten der Provinz Westfalen v. 2. Juni 1942 wird lapidar mitgeteilt, dass die darin aufgeführten jüdischen Eigentümer der Ge-meinde Fürstenau nach Riga „evakuiert“ seien.

Wo sich die Frauen, Männer und Kinder am 10. Dezember zur „Evakuierung“ einzufinden hatten, bestimmte der Ortspolizist. In Fürstenau hatten sich die Juden auf dem Platz vor der Kirche und dem Geschäft Welling bereitzuhalten.

Dazu  Zeitzeugen:

Ich kann mich noch erinnern, als die Bachmanns abgeholt wurden, Wir Kinder waren zuhause und hörten gegenüber dieses Geschrei und einen ungewöhnlichen Lärm.

Ich schob die Gardine etwas zur Seite, um nachzusehen, was da los sei, und blickte in einen Gewehrlauf. Ich zog mich erschrocken zurück und wagte nicht mehr, aus dem Fenster zu sehen.“

Ich weiß noch, wie die Juden am 10. Dez. 1941 abgeholt wurden. Da stand bei Wellings auf dem Platz, also vor der Kirche, ein Lastwagen und dort wurden sie bis auf zwei aufgeladen. Meine Mutter und wir Kinder standen hinter der Gardine und meine Mutter weinte und sagte auf plattdeutsch, ich höre es noch wie heute: „Die sehen wir nicht wieder!“

 

In einem Massenquartier im Saal der Bielefelder Gaststätte „Kyffhäuser“ wurden die seit dem 10. Dezember eintreffenden Deportationsopfer untergebracht. Dort übernahm die Geheime Staatspolizei (Gestapo) die weitere Abwicklung.

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Drangvolle Enge: Deportierte Juden aus Ostwestfalen, auch die Juden aus Fürstenau, sind im Saal der Gaststätte „Kyffhäuser“ in Bielefeld untergebracht. Foto: Stadtarchiv Bielefeld

 Es wurden die Identifi-zierungen und Leibes-visitationen (Suche nach versteckten Wertgegen-ständen und Bargeld) der Personen durchgeführt. Das Gepäck wurde durchsucht, noch vorhandenes Bargeld und Wertgegenstände (Schmuck und persönliche Erinnerungsstücke) wurden beschlagnahmt.

Bis zu ihrem Abtransport mussten die etwa 400 Juden aus dem Regierungsbezirk Minden, darunter 76 aus den vier Hochstift-Kreisen unter schlimmsten sanitären Bedingungen ausharren. Tag und Nacht verbrachten sie auf dem nur notdürftig mit Stroh ausgelegten Boden.

Am 13. Dezember wurden die in der Gaststätte internierten Juden mit Bussen zum Bielefelder Hauptbahnhof transportiert. Um 15.00 Uhr traf der Zug mit Juden aus Münster und Osnabrück ein. Für die in Bielefeld festgehaltenen Opfer wurden leere Personenwagen vorgehängt.

Der Zug mit Deportierten aus den Regierungsbezirken Münster und Osnabrück treffen am Hauptbahn-hof Bielefeld ein. Für die rund 400 ostwestfälischen Juden werden zusätzliche Waggons vorgehängt.

 

 

 

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Fotos: Stadtarchiv Bielefeld

Nach dreitägiger Fahrt gelangten die 1.031 Personen dieses Transports kurz nach Mitternacht in Schirotawa, einem Vorort von Riga, an. Von diesem Transport haben nur 102 Menschen das Kriegsende erlebt.[1]

Bereits während des dreitägigen Transports entzog man den Menschen das Trinkwasser und erst am 16. Dezember wurden die Waggons aufgerissen und die Juden aus dem Zug getrieben. Hierbei ging ein weiteres Mal ein Großteil ihres Handgepäcks, das sie bis hierher gerettet hatten, verloren.

Von Schirotawa ging es bei Temperaturen von etwa 15 Grad minus in einem qualvollen Fußmarsch in das 5 km entfernte Rigaer Ghetto. Wer auf dem Marsch Schwächen zeigte, wurde erschossen, sein Leichnam blieb zurück.

Den ankommenden Juden wurde angeboten, bereitstehende Omnibusse zum Ghetto zu nehmen. Angesichts der Entkräftung und der Kältegrade entschieden sich viele für die Busse, die allerdings nicht zum Ghetto, sondern in Richtung Rumbula-Wald fuhren, wo sie auf der Fahrt dorthin durch die Einleitung der Autoabgase ermordet wurden.

Diejenigen, die sich für den Fußmarsch entschieden, hatten zumindest eine Überlebens-chance, was einige auch rechtzeitig erkannten.

 Vor Ankunft der Juden aus dem „Altreich“, also auch der Fürstenauer Juden, wurde das zuvor mit lettischen Juden belegte Ghetto „freigemacht“. Das heißt, dass die bisherigen Bewohner ermordet wurden. Diese Ermordungswelle ist als sog. „Rigaer Blutsonntag“ in die Geschichte eingegangen.

Etwa 25.000 bis 28.000 lettische Juden wurden aus den Behausungen des Ghettos getrieben und außerhalb der Stadt in einer Massenhinrichtung im Rumbula-Wald erschossen. Diejenigen, die sich der Vertreibung verweigerten, wurden noch in ihren Wohnungen umgebracht, erschossen oder erschlagen.

Die SS-Einsatzkommandos machten sich nicht einmal die Mühe, die Spuren des Massakers zu beseitigen, sondern zwangen die ankommenden Juden, die Unterkünfte der zuvor Ermordeten zu beziehen.

Als die Menschen nach langem Warten endlich in die Häuser des Ghettos gehen durften, fanden sie in den Häusern grauenhafte Beweise für die Ermordung der ehemaligen Bewohner. Da waren Blutflecke auf den Wänden, nicht zu Ende gegessene, total gefrorene Mahlzeiten, in Wassergläsern eingefrorene Zahnprothesen. Schrecklich muss das Auffinden von toten, total erstarrten Säuglingen gewesen sein, was von Überlebenden bezeugt wird.

 Die ankommenden Juden mussten sich zunächst mit dem versorgen, was sie in den Wohnungen der Ermordeten vorfanden. Deshalb verhungerten in den ersten Tagen und Wochen viele der Neuankömmlinge.

Wer Glück hatte, fand in den Wohnungen noch etwas vor, was in der Stadt gegen Lebensmittel eingetauscht werden konnte. Am Schlagbaum gab es jedoch Kontrollen und wenn etwas gefunden wurde, musste der Betreffende mit dem Tode rechnen; Männer wurden auf dem sog. Blechplatz augenblicklich erhängt und Frauen auf dem alten Friedhof sofort erschossen.[2]

Etwa die Hälfte der ankommenden Juden wurden unverzüglich in das Arbeitslager Salas-Pils eingewiesen, die anderen verblieben im Ghetto. Dort lebten sie nach ihrer Ankunft im sog. Dortmunder oder Bielefelder Bezirk.

 Das Arbeitslager Salas-Pils hatte eine schreckliche Bedeutung für die Ghetto-Bewohner. Der Transport dorthin war meistens mit dem sicheren Tode gleichbedeutend.

So war der 16. und 17. März 1942 (3 Monate nach Ankunft der Fürstenauer Juden) einer der vielen Schreckenstage der Ghettobewohner. Dieselben LKWs, die die Menschen zum Arbeitseinsatz nach Salas-Pils gebracht hatten, kamen wieder zurück, angefüllt mit Mänteln, Anzügen, Kleider, in aller Eile ausgezogener Unterwäsche, verkrusteten Schuhen, Handtaschen, Lebensmitteln, Babyflaschen und Büchern.

In diesen wenigen Tagen wurden etwa 1.500 Juden aus dem „Altreich“ ermordet.

 Viele der arbeitsfähigen Frauen verblieben im Ghetto und wurden in dem sog. „Gewerbebetrieb“ der SS eingesetzt. Hier hatten sie bis in das Jahr 1943 die Aufgabe, die Koffer der ermordeten Juden zu sortieren, ihre Kleidungsstücke nach Erhaltungsstufen zu ordnen, wobei die gut erhaltenen Stücke in das „Altreich“ gelangten, die noch gebrauchsfähigen wurden dem lettischen Hilfspersonal zugeführt und der Rest war für die Ghettobewohner bestimmt.

Die Arbeitsfähigen leisteten Zwangsarbeit außerhalb des Ghettos. Wer nicht durch Krankheit oder Unterernährung starb, fiel den sich ständig wiederholenden großen Säuberungsaktionen der Einsatzkommandos zum Opfer.

Im Juni 1943 wurden die Ghettobewohner in das 10 km entfernte Konzentrationslager (KZ) Riga-Kaiserwald verlegt. In Riga-Kaiserwald wurden u.a. auch Schwerstkriminelle unterge-bracht, die in dem KZ auch Hilfsdienste für das Wachpersonal wahrzunehmen hatten. Die Verhältnisse in Kaiserwald waren ärger als alles, was man bis dahin in Riga erlebt hatte.

Als sich ein Jahr später die Rote Armee der lettischen Grenze näherte, begann die Räumung des KZ mit der Tötung Tausender als arbeitsunfähig eingestufter Menschen.

Andere KZ-Insassen wurden in andere Lager, wie Treblinka oder Auschwitz verlegt. Andere gerieten vorübergehend in das lettische KZ Libau, so auch die Fürstenauerin Carla Pins mit ihrem Ehemann Max Pins, der dort umkam. Die übrigen begaben sich auf einen verheerenden Todesmarsch Richtung Westen.

 Von der zweiten und dritten Deportation waren bis dahin in Fürstenau zurückgebliebene Juden nicht betroffen. Es waren vorwiegend ältere Menschen, wie z.B. Markus Judenberg, der zu dieser Zeit bereits 85 Jahre alt war. Die vierte Deportation fand am 31. Juli und 1. August 1942 statt und ging in das KZ Theresienstadt. Von dieser Deportation waren auch die älteren Fürstenauer Juden betroffen. Theresienstadt war als „Alters- bzw. Vorzeigeghetto“  für Juden über 65 Jahren, für „prominente“ Juden und Juden mit Kriegsauszeichnungen aus dem 1. Weltkrieg eingerichtet worden.

Ältere Juden glaubten sich durch einen sog. „Heimeinkaufsvertrag“, den sie noch an ihrem Wohnort gegen Vorauszahlung einer größeren Geldsumme abgeschlossen hatten, ein besonderes Recht erworben zu haben. Ihnen wurde schnell mit Entsetzen deutlich, dass sie einem Trugschluss aufgesessen waren.

Als sie Theresienstadt erreichten, wurde ihnen vor Augen geführt, dass in der ehemaligen Festungsstadt, die für nur etwa 7.000 Menschen ausgelegt war, nunmehr 50.000 Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht waren.

Die Lebensbedingungen waren unerträglich. Die Opfer starben an Seuchen und Unterernährung. Hierbei waren zuallererst die alten, kranken und gebrechlichen Menschen betroffen.

 Aber auch Theresienstadt war nur Durchgangsstation für die Vernichtungslager des Ostens. Beispielsweise wurde der 85-jährige Fürstenauer Markus Judenberg bereits knapp zwei Monate später, am 23. September 1942 in das Todeslager Treblinka verbracht, wo er offenbar ermordet wurde.

 Bis Mai 1945 durchliefen etwa 141 000 Menschen das Lager Theresienstadt, 35 000 starben hier und nur 14 000 überlebten Theresienstadt.

[1]  Prof. Gertrude Schneider: „Reise in den Tod“ S. 83

[2] a.a.O

 

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