Das Leben der Juden im Corveyer Land bis in die dreissiger Jahre des 20. Jahrhunderts
Die jüdischen Familien, die sich in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts in den Dörfern der Fürstabtei Corvey niederließen, hatten es deutlich schwerer, wirtschaftlich Fuß zu fassen, als die in Höxter ansässigen Juden. Die Dorfjuden widmeten sich zunächst fast ausschließlich der landwirtschaftlichen Produktion, die hauptsächlich der Selbstversorgung diente. Ende des 17. Jahrhundert lebten die Dorfjuden überwiegend in äußerst bescheidenen, ärmlichen Verhältnissen. In einer Vermögensaufstellung aus dem Jahr 1683 befand das Corveyer Kapitel nur die Vermögenslage von Gottschalk Philipp aus Fürstenau als so stabil, dass er von der Landesverweisung ausgenommen werden sollte. Im Verlaufe der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts begann sich die Vermögenslage der Juden auf den Corveyer Dörfern zu verbessern. So werden Jakob Schwabe aus Albaxen und Levi Philipp aus Fürstenau häufiger als Gläubiger in Geldgeschäften genannt. Allerdings waren ihnen präzise Vorgaben über Zinsobergrenzen gegeben: „ein mehrers nicht alß in kleinen summen welche über zehn Reichsthaler sind, wochentlich einen pfennig auf einen Rhtlr. [d.h. 18.05 % Jahreszins], in größeren summen aber 12 Rhtlr. aufs hundert jährlich anzunehmen [d.h. 12 % Jahreszins].“ Eine drastische Senkung der Zinssätze erfolgte 1754 durch die Wucherordnung des Fürstabts Philipp von Spiegel v. 20. Februar 1754, in der der Zinssatz unabhängig von der Darlehnshöhe einheitlich auf 6 % festgesetzt wurde. 1776 wurde der Zinssatz nochmals abgesenkt und durfte nur noch höchstens 5 % betragen.
Im 18. Jahrhundert stand bei dem Landesherrn, dem Fürstabt, und dem Corveyer Kapitel eine Verweisung der Juden niemals zur Debatte. Man hatte erkannt, dass die Judenschaft für das Wirtschaftsleben in Anbetracht der ökonomischen Rückständigkeit des Corveyer Landes von überaus großer Bedeutung war. Darüber hinaus waren die Juden als fiskalische Einnahmequelle (Steuern, Sondersteuern, Schutzgelder etc.) längst unentbehrlich geworden. Deshalb genossen sie im Corveyer Land einerseits relativ große Freiheiten, was sie andererseits wiederum unter strengste Beobachtung der Obrigkeit stellte. Dies wird aus folgenden beispielhaften Ereignissen deutlich, die in verschiedenen Archiven des Corveyer Gebiets dokumentiert sind:
Im Jahre 1715 legte der Fürstabt Maximilian von Horrich den Juden seines Hoheitsgebietes, so auch den Fürstenauer Juden, auf, innerhalb von 6 Monaten die den Kirchen nahegelegenen Häuser zu räumen.
Die Corveyer Kirchenordnung untersagte den Juden ferner das Betreten christlicher Friedhöfe, „da sie die Toten verfluchen“ würden.
Am 11. August 1732 richtete der Corveyer Prior an den Fürstenauer Pfarrer folgendes Schreiben: „Demnach dem Juden Sostmann Gottschalck anbefohlen, die Stube im hintern hause anzulegen, und an selbigen von vorn nach der Kirchen hin keine fenster machen zu lassen, wie im gleichen dahin zu sehen, damit den Tag, wan die Procession umb St. Antony vor solchen Hause vorbey gehen, und alda Station halten wird alles von dem Hause nach der Straßen rein sein möge.“Die Judenordnung aus dem Jahr 1678 regelt das Leben der Juden in ihrem christlichen Umfeld teilweise bis ins Detail: „… daß die Juden „…mit ihrem Leben und Wandel kein ergernüß“ erregen sollen.“ Diese Judenordnung enthält auch die strenge Mahnung an die Judenschaft, „…sich aller Gottes-Lästerung, so dem Christenthumb zuwieder, bey Vermeydung Leibes strafe [zu] endthalten.“ Meldungen wegen angeblicher gotteslästerlichen Fluchens in der Öffentlichkeit wurden dann auch unnachgiebig verfolgt und mit hohen Geldstrafen geahndet. So beschwert sich ein protestantischer Geistlicher aus Bruchhausen am 8. Mai 1668 über das in seinen Augen anstößige Verhalten der Juden bei einer Beerdigung bei dem Corveyer Kapitel: „… wann Laza in halsstarriger gottlosigkeit als ein jude dahin gestorben, ist dessen körper ohnbegraben bis uff den sontag liegen blieben, denn sie die juden ihren vermeinten sabbath nicht violiren wollen, sontags aber … haben sie aber die begräbnüß angestellet, und zwar dero gestalt, daß sie unter wehrenden gottesdienst morgens zwischen acht neun undt zehn uhren durch hiesigen todtengräber … das grab machen lassen, dabey auch eiander recht zugetrunken…“ Es war in der damaligen Zeit eine weit verbreitete Vorstellung, wonach die Juden „als feinde des gekreuzigten Christi in ihrem conventiae und synagogen ihre gottes- lesterung wieder Christum, die H. Jungfraw Mariam, den christlichen Glauben und dessen bekenner … ausstossen“ würden. In der Corveyer Kirchenordnung von 1690 waren die Beziehungen zwischen Juden und Christen geregelt; sie zielte in erster Linie darauf ab, den katholischen Glauben unangetastet zu bewahren: …damit der „gemeineundteinfältige man … nicht verführet und irre gemacht würde.“ Bereits vor Erlass der Kirchenordnung von 1690 achtete die Obrigkeit darauf, dass Juden und Christen getrennt wohnten. In der Folgezeit ließ sich aber dieses Verbot in den meisten Fällen nicht durchsetzen, auch wenn es immer wieder in Erinnerung gebracht wurde. Zumindest sollte dem christlichen Untertan Einblicke in das religiöse Leben der Juden verwehrt werden. Darauf dürfte auch das 1751 auferlegte Verbot abgezielt haben, wonach Juden „… hinfuhro die Lauberhütten nicht vor ihren Häußern auf der Straße, sondern hinter denenselben …“ errichten sollten. So musste Abt Maximilian von Horrich 1715 erneut befehlen, dass: „… hinführo keine christen mehr in ihren [jüdischen] häusern oder synagog zum dienst mehr zu gebrauchen, weder sonsten in ihren dienst haben.“ Diese Anordnung erschien dem Landesherrn deshalb wichtig, weil sich die Juden am Sabbath oder an anderen jüdischen Festen jeder Arbeit enthalten mussten und sich nichtjüdischer Bürger zur Verrichtung bestimmter notwendiger Arbeiten bedienten.Trotz aller Emanzipationsbewegungen blieben die Juden als religiöse und soziale Minderheit im Corveyer Gebiet bis weit in das 20. Jahrhundert hinein eine Randgruppe. Im späten 19. Jahrhundert und in im beginnenden 20. Jahrhundert entwickelte sich auf dem Lande zwischen Christen und Juden im Rahmen intensiverer geschäftlicher Kontakte, auf die beide Seiten angewiesen waren, ein vergleichsweise ausgeglichenes, manchmal sogar freundschaftliches Verhältnis.